Fast 11.000 Kinder verunglückten 2017 nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Deutschland als Mitfahrer in einem PKW. Durch den Einsatz aktueller Autositzmodelle können Kinder geschützt werden. Doch die Technologie gilt weithin als ausentwickelt. Neue Ansätze gibt es durch die Anbindung an die Fahrzeugelektronik. Die ESF-2019-Studie von Mercedes-Benz zeigt gemeinsam mit Britax Römer, wie es geht.
Spricht man über die Sicherheit von Babys und Kindern im Auto, denkt jeder an Autokindersitze, Isofix und i-Size. Durch die gesetzlichen Zulassungsanforderungen einerseits und durch die darüber hinausgehenden, die Branche zusätzlich fordernden Teste von Verbraucherorganisationen wie dem ADAC und der Stiftung Warentest andererseits, gilt das Vermeidungspotenzial der aktuellen Modelle von namhaften Markenherstellern im Falle eines Unfalls als hoch. Trotz der Wechsels von der ECE R44- zur ECE R129-Norm – vereinfacht als Erweiterung der Isofix-Norm hin zu i-Size zu verstehen, wenngleich i-Size nur ein Sonderfall der ECE R129-Vorschriften darstellt – hat sich an der grundsätzlichen Ausrichtung des Kindesschutzes durch die im Wesentlichen passiven Elemente zur Rückhaltung von Kindern beim Unfall bis hin zur Absorption von Energie bei einem Aufprall wenig geändert. Denn obgleich Hersteller von Kindersitzen schon lange davon träumen, in Zusammenarbeit mit Autoherstellern neue Sicherheitskonzepte umzusetzen, hat die Schaffung von neuen Möglichkeiten und Standards aufseiten der Automobilhersteller keine ausreichende Priorität.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht von E-Autos, autonomer Mobilität und immer mehr Rechenleistung unter den Motorhauben hört. Täglich erfährt man von immer mehr Rechnern, Sensoren und künstlicher Intelligenz in den Fahrzeugen. Dennoch existiert nicht einmal ein kleinstmöglicher gemeinsamer Standard, um den Spezialisten für Kindersicherheit auch nur ein bisschen Strom verlässlich zur Verfügung zu stellen.
Als Dorel mit dem „AxissFix Air“ von Maxi-Cosi 2017 den weltweit ersten Kindersitz mit integriertem Airbag auf den Markt brachte, galt es unter anderem, eine eigene Stromquelle für Elektronik zur Detektion eines Unfalls zu entwickeln, die verlässlich lang sowie bei Hitze wie tiefer Kälte ihren Dienst erweist. Doch im Grunde wäre ein 12-Volt-Anschluss im Kindersitzbereich in der heutigen Zeit fast schon lächerlich.
Unter den zahlreichen Assistenzsystemen eines modernen Automodells gibt es auch jene, die zum Beispiel im Falle von unfallanzeigenden Verzögerungen im Auto entsprechende Signale bereitstellen, damit Gurtstraffer, Lenkachse und andere Elemente einem Aufprall vorbeugen. Schon seit Jahren wird von der Möglichkeit, Kindersitze an die Datenbusleitungen der Fahrzeuge anzubinden, gesprochen.
Ideen, Konzepte und Forderungen werden nicht zuletzt im Kreise der jährlich im Dezember beim Tüv Süd in München ausgerichteten International Conference Protection of Children in Cars unter der Schirmherrschaft von Sicherheitsforscher Prof. Dr. Klaus Langwieder diskutiert. Wenn auch noch ein Standard sowie die breite Einführung in den Sternen steht, so wird hinter den Kulissen an den Themen bereits geforscht und entwickelt.
Was möglich sein wird, hat in diesem Jahr Mercedes-Benz der breiten Öffentlichkeit auf der Frankfurter IAA bei der Präsentation des ESF 2019 vorgestellt. Mit dem 2019er Experimental-Sicherheits-Fahrzeug (ESF) zeigt Mercedes-Benz, an welchen Ideen die Sicherheitsexperten des Unternehmens momentan forschen und arbeiten. Unter dem gut einen Dutzend Innovationen sind darunter sowohl seriennahe Entwicklungen als auch solche, die weit in die Zukunft reichen.
Eines der vorgestellten Konzepte im ESF 2019 ist der „Pre-Safe-Child“-Bereich, der aufzeigt, wie sich der Schutz der Kinder weiter verbessern lässt. Dieses ist in Zusammenarbeit mit Britax Römer und dem Modell „Dualfix i-Size“ entwickelt worden. Durch die „Pre-Safe“-Funktionen werden bei dem Kindersitz vor einem Crash präventiv die Gurte des Sitzes gestrafft und Seitenaufprallschutz-Elemente ausgefahren. Zusätzlich wurden weitere innovative Funktionen wie die Installations- und Vitalüberwachung in den Sitz integriert.
Mit dem präventiven Insassenschutzsystem „Pre-Safe“ startete Mercedes-Benz bereits 2002 und integrierte Funktionen der aktiven und passiven Sicherheit. Denn „Pre-Safe“ kann vorsorglich Schutzmaßnahmen für die Autopassagiere aktivieren. Ziel ist es, Insassen und Auto auf einen drohenden Zusammenstoß vorzubereiten, sodass beispielsweise Gurte und Airbags beim Aufprall ihre volle Schutzwirkung entfalten können.
Im ESF 2019 profitieren nun also auch die Kleinsten vom „Pre-Safe“-Schutz und einem Seitenaufprallschutz-System mit seitlich im Sitz integrierten Schutzelementen, die in einer „Pre-Safe“-Situation selbstständig ausfahren. Dazu ist der Kindersitz mit dem Fahrzeug per Funk vernetzt. Erkennt die Fahrzeugsensorik ein relevantes Manöver, beispielsweise seitliches Schleudern, sendet diese ein Signal an den Kindersitz, das die entsprechenden Schutzmaßnahmen auslöst. Binnen Millisekunden werden dann die Gurte des Kindersitzes gestrafft und das Seitenaufprallschutz-Element ausgefahren, indem Magnetschalter betätigt werden.
Als Stromquelle dient eine im Kindersitz verbaute Batterie. Durch das Zusammenspiel des Systems wird das Kind durch den gespannten Gurt besser und genauer in seinem Sitz fixiert und die sogenannte Gurtlose reduziert. In der Folge sinken die Belastungen für das Kind bei einem Aufprall erheblich, wozu auch die Seitenaufprallschutz-Elemente beitragen.
Das Fünf-Punkt-Gurtsystem des drehbaren Kindersitzes von Britax Römer wird mechanisch vorgespannt. Dazu wird das Kind in die Blickrichtung zur Tür gehoben. Die anschließende Drehung um 90 Grad, um den Sitz in oder gegen die Fahrtrichtung auszurichten, spannt das System vor. Dabei wird die erzeugte Federkraft genutzt, um den im Sitz integrierten Gurt zu straffen, sobald das Fahrzeug einen „Pre-Safe“-Auslösefall erkannt hat. Bei der nächsten Benutzung und Drehung des Kindersitzes wird das reversible System wieder vorgespannt.
Ähnlich ist es bei den seitlich im Sitz integrierten Seitenaufprallschutz-Elementen. Dies erfolgt übrigens immer nur türseitig, unabhängig davon, ob der Sitz nach vorne oder nach hinten befestigt ist. Die mechanische Vorspannung des Systems geschieht durch das manuelle Eindrücken der Schutzelemente in den Sitz.
Da fast jeder zweite Kindersitz nicht richtig im Auto montiert wird, soll eine Installationsüberwachung beim vernetzten Kindersitz des ESF 2019 eine solche Fehlbedienung verhindern. Acht Symbole direkt am Sitz und dreidimensionale Animationen im Media-Display des „MBUX“-Systems des Fahrzeugs führen durch die einzelnen Schritte der Montage und signalisieren, wenn diese korrekt erfolgte.
Durch eine zentrale Vitalüberwachung verringert sich die Gefahr einer Ablenkung des Fahrers. Mittels der neuen Sicherheitsverordnung ECE R129 sollen Sitze für Kinder bis 15 Monate rückwärts gerichtet an den Isofix-Befestigungen verankert werden, um bei einem Frontalaufprall Kopf und Nacken kleiner Kinder weniger stark zu belasten. Das hat den Nachteil, dass das Kind vom Fahrerplatz nicht mehr beobachtet werden kann. Daher überwacht der vernetzte Kindersitz des ESF 2019 Temperatur, Puls, Atmung und den Schlafzustand des Kindes.
Während der Fahrt informieren Animationen im Media-Display wie zum Beispiel „Alles gut“ oder „Kind wird wach“ über den Zustand des Kindes. Außerdem ist im Kindersitz eine Kamera installiert. Im Stand wie an einer Ampel, kann kurzzeitig auf ein Live-Videobild im Media-Display umgeschaltet werden. Alle Vitaldaten lassen sich während der Fahrt zusätzlich auf Wunsch mit der Unterstützung der Mercedes „me-App“ auf ein Smartphone übertragen, um beispielsweise den anderen Elternteil über den Zustand des Kindes zu informieren.
Schöne neue Welt, möchte man meinen. In Zusammenarbeit mit Britax Römer wird deutlich: Die Branche ist bereit, wenn die Automobilhersteller die Systeme öffnen.